Mit der Überschrift “Knowledge Is Power, Code Is King and Orwell Was Right” zu einem Unterkapitel im Buch “Future Crimes” trifft Marc Goodman den Nagel auf den Kopf. Und zwar gleich für das ganze Buch auf einen Schlag. Mit diesen wenigen Worten fasst er die von ihm beschriebenen unzähligen Privacy- und Werkspionagevorfälle zusammen.
Zu Beginn war ich sehr skeptisch. Das Buch folgt keiner erkennbaren Struktur. Zwar ist es formell in drei Teile und total 18 Kapitel (und dann wiederum in unzählige Unterkapitel) unterteilt, im Wesentlichen stellen die Kapitel aber thematisch zusammengefasste Sammlungen von Vorfällen dar. Dazwischen erfolgen verstreute Überlegungen zu den komplexen technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhängen unserer digitalen Gesellschaft. Das Buch liest sich aber sehr spannend. Es ist in süffigem amerikanischem Stil gehalten und man kommt rasch voran. Es führt den Leser in erste Linie über diverseste Fallbeispiele an das Thema Privacy und Big Data heran. Systematisches Darlegen von erhärteten wissenschaftlichen Fakten findet man kaum. Das ist aber auch nicht der Anspruch des Autors.
Im Fliesstext findet man ausserdem keine Fussnoten. Das direkte Erschliessen der Quellen von Goodman erfolgt über den umfangreichen Endnotenkorpus. Pro Seite findet man in den Endnoten dann ein bis zwei Quellenangaben, manchmal einiges mehr. Für wissenschaftliches Arbeiten ist das Buch nicht direkt brauchbar, die Quellensammlung in den Endnoten ist dennoch sehr wertvoll.
Wichtig zu wissen: Das Buch stammt aus dem Jahr 2015. Ich habe es damals geschenkt erhalten und erst jetzt, drei Jahre später, gelesen. Da ich von Berufs wegen jeden Tag dutzende Seiten lese, hält sich mein Leseappetit in der Freizeit in Grenzen. Obwohl das Buch heute drei Jahre alt ist und sich zwischenzeitlich enorm viel getan hat, lohnt sich die Lektüre allemal. Das Buch führt den (negativen) Umgang mit Daten in einer digitalen Gesellschaft eindrücklich vor Augen. Spannend wäre, was Goodman in einem Update zu Tage fördern würde. Insbesondere der Einfluss der DSGVO/GDPR würde mich interessieren. Drei Jahre sind vermutlich zu wenig. Nach zehn Jahren, oder elf (die GDPR ist im 2016 in Kraft getreten und hat eine zweijährige Schonfrist vorgesehen), wäre eine neue Standortbestimmung, wie sie Goodman vorgenommen hat, mit Sicherheit fällig. Nun aber zur Headline zurück:
Goodman sagt, Knowlegde is Power. Dass Wissen Macht ist, erlebt man jeden Tag. Sei es bei Vertragsverhandlungen (Ist man kreditwürdig? Welcher Preis wird vom Gegenüber akzeptiert? Wie tief kann ich mein Abzahlungsangebot ansetzen?), bei der Interessendurchsetzung über Pressure Groups oder Parteien oder auch im Prozessalltag. Einen Prozess gewinnen Sie dann, wenn Sie geschickt den Wissensstand des Gerichts steuern können. Einen Prozess gewinnen Sie dann, wenn Sie vom Klienten vollständig informiert wurden. Einen Prozess gewinnen Sie schliesslich dann, wenn Sie sich im Prozessrecht auskennen. Das war die Anwaltswarte; ‘Wissen ist Macht’ lässt sich gleichermassen auf jede andere Situation oder jeden anderen Berufsstand anwenden.
Goodman sagt weiter, Code is King. Hier kreiert Goodman, soweit für mich ersichtlich, einen neuen Aphorismus (um dieses Fachwort aus der Schulzeit wieder auszugraben, musste ich eine Viertelstunde im Internet suchen… Quelle: Wikipedia zu Aphorismus). Aus Code is Law macht Goodman Code is King. Das ist sehr geschickt. In Zeiten von Smart Contracts erhält der Satz “Code is Law” (hier also nicht Code is King) neue Bedeutung und eröffnet neue Diskussionsschauplätze. Kollege Abegg hat in einem lesenswerten Artikel auf Medium.com resp. Coindesk.com seine Ansicht dargelegt. Er hält fest, dass Code noch nicht wirklich als Recht angeschaut werden kann. Grundfeste Regeln wie z.B. das Handeln nach Treu und Glauben lassen sich nach Abegg schlicht und ergreifend noch nicht in Code fassen.
“Code is King” nach Goodmans “Future Crimes” meint, dass heute die menschlichen Handlungsweisen durch Code vorgegeben werden können. Vielleicht ist Code nicht Law aber immerhin King. Es geht hier um die faktische Unterwerfung unter Regeln, die von Code vorgegeben werden. Goodman verweist auf Lawrence Lessig, der in “Code and other Laws of Cyberspace” aufzeigt, wie Techgiganten wie Facebook oder Google einseitig ihre Benutzungsrichtlinien ihrem neuem Code anpassen und dadurch effektiv neues “Recht” setzten. Eine andere Benutzung ist gar nicht mehr möglich. Da gebe ich Goodman Recht. In diesem Sinne ist Code King. Die Version 2.0 von Lawrence Lessigs Buch, neu nur noch “Code” genannt, ist übrigens frei erhältlich unter codev2.cc.
Goodman sagt schliesslich, Orwell was right. Das stimmt in dieser Absolutheit nicht ganz: In Orwells 1984 herrscht ständige Angst. Mit dieser Angst versucht das System seine Bürger zur Folgsamkeit zu zwingen. George Orwell zeichnet dazu ein System totaler Überwachung, dem die Bürger machtlos gegenüber stehen. Anders als in dieser Distopie haben die Menschen heute in unserer Welt nicht die geringste Angst. Es wird gedankenlos alles mit allen geteilt. Interessanter Weise existiert diese Sorglosigkeit (wenn auch seltener) sogar unter Fachleuten in der Infosecbranche. Auch dort hört man dann ab und zu, ach, ich bin gar kein Ziel und ich bin gar nicht so wichtig etc. Diese Haltung fusst vermutlich auf einem Mini-Risikoassessment; die systemimmanente Wichtigkeit der informationellen Selbstbestimmung in einer digitalen Gesellschaft wird dabei aber einfach unterschlagen. Das heutige Datenteilen greift nicht nur in die eigene Persönlichkeit ein, sondern fast schon automatisch in jenes von Verwandten und Bekannten. Kennen Sie nicht auch jemanden, der von LinkedIn oder Facebook sein Adressbuch hat durchsuchen lassen? Damit wurden Sie auch gleich erfasst mit allen Daten, die im Adressbuch über Sie vorhanden sind.
Goodman geht also (im Moment jedenfalls) noch etwas zu weit, wenn er sagt, Orwell was right. Orwell hat nicht vollständig recht, denn die Menschen haben heute keine Angst vor der Überwachung. Egal ob privat oder staatlich.
In gewissen Teilen der Welt ist das freiwillige Datenteilen durch sog. Gamification schon heute auf einer höheren Stufe angelangt. In China z.B. wird die Bevölkerung mit einem Social Credit System (SCS) bewertet. Ab 2020 soll das System fertig implementiert sein und dann alle Interaktionen der Chinesinnen und Chinesen überwachen. Im Moment stehen rund acht Techkonzerne im Wettbewerb darum, wer das beste System bietet. In den Score fliessen Informationen ein wie z.B. die Freundschaft mit einer verschuldeten Person oder einem Schwarzfahrer. Beides wirkt sich negativ aus; tun kann man nichts dagegen. Ersten Chinesen wurde schon der Zugang zur S‑Bahn, zum Flugzeug oder zur Universität verwehrt, einzig, weil ihr Score ungenügend war oder ein Bereich zu stark ausgeschlagen hat. Die Obrigkeit setzt also gezielt auf Wettbewerb unter den Bürgern. Die Kriterien für diesen Wettbewerb werden hoheitlich und nach Gutdünken festgelegt. Ein guter Score ersetzt mit der Zeit das freie Handeln. Das ist Stress pur. Mir scheint das eine Vorstufe zur Orwell’schen Angst zu sein.
Am 34. Chaos Computer Congress vom Dezember 2017 hat die Sinologin Kathika Kühnreich über dieses Social Credit System referiert. Den Vortrag findet man auf den Medienservern des CCC (Vortrag Kühnreich zum SCS). Auch heise hat im Nachgang zum Vortrag berichtet. Zur Abrundung empfehle ich Ihnen “Nosedive”, die erste Episode der dritten Staffel von Black Mirror. So kann man sich das Leben unter dem Social Credit System vorstellen.
Knowledge is power, das stimmt, code is king ebenfalls. Und Orwell was right könnte bald Wirklichkeit werden.
Update 13.09.2018: Offenbar hat WordPress alle Links verschluckt. Sie wurde nun wieder eingebaut.
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