In einem Verfahren (1B_401/2017), das sich in erster Linie um einen abgelehnten Entsiegelungsantrag einer Staatsanwaltschaft durch ein Zwangsmassnahmengericht dreht, erwähnt das Bundesgericht en passant, dass allfällige Hackerangriffe auch abzuklären seien. Es hebt den Entscheid des Zwangsmassnahmengerichts auf und gibt der Staatsanwaltschaft recht: Die Staatsanwaltschaft darf die beschlagnahmten E‑Mails sichten.
Die Staatsanwaltschaft stellte diese E‑Mails direkt beim E‑Mail-Provider mittels Editionsverfügung sicher. Offenbar waren die Mailkonten so konfiguriert, dass die Mails auch nach Abruf auf dem Server verblieben sind. Wären die Mails nur lokal gespeichert und dann vom Server gelöscht worden, hätte diese Edition nichts zu Vorschein gebracht. Durch diese Vorgehensweise der Staatsanwaltschaft hat der Beschuldigte nichts von alledem gemerkt. Für gewöhnlich wird in Editionsverfügungen verboten, über den entsprechenden Vorgang etwas zu verraten. Einem Beschuldigten wird diese Zwangsmassnahme erst später eröffnet.
Nach der Edition beim Provider erfolgte eine Hausdurchsuchung beim Beschuldigten. Brisant daran: Der Beschuldigte ist Rechtsanwalt. In solchen Fällen sind Zwangsmassnahmen rechtsstaatlich besonders heikel. Bei der Hausdurchsuchung wurden die Büros des Beschuldigten und der Sekretärin nach Beweismitteln durchforstet, ebenso der Serverraum, wo sich vermutlich sämtliche Klientendaten der ganzen Kanzlei befanden(!). Offenbar wurden bei dieser Hausdurchsuchung sowie der vorherigen E‑Mail-Edition nicht nur E‑Mails des Beschuldigten, sondern auch solche von zwei weiteren Anwaltskollegen gesichert.
In der Folge verlangten alle drei Anwälte sowie die Sekretärin die Siegelung der gesicherten E‑Mails, die Staatsanwaltschaft verlangte daraufhin die Entsiegelung, was das Zwangsmassnahmengericht ablehnte und dann letztinstanzlich auf Beschwerde der Oberstaatsanwaltschaft hin vom Bundesgericht doch noch erlaubt wurde.
Der Hintergrund des ganzen Strafverfahrens war der Verdacht, dass in einem Zivilprozess ein abgeändertes E‑Mail als Beweisurkunde aufgelegt wurde: Das vom Beschuldigten in den Zivilprozess eingebrachte Beweisdokument enthalte im CC eine Person weniger, als das Beweisdokument der Gegenpartei. Prozessbetrug steht im Raum.
Zurück zum Wortlaut des Entscheids: Das Bundesgericht legt dar, was die Aufgabe der Strafbehörden ist:
4.2. Im Rahmen der zulässigen Untersuchungsmassnahmen klären die Strafbehörden von Amtes wegen alle für die Beurteilung der untersuchten Tat und der beschuldigten Person bedeutsamen Tatsachen ab (Art. 6 Abs. 1 StPO). Über Tatsachen, die unerheblich, offenkundig, der Strafbehörde bekannt oder bereits rechtsgenügend erwiesen sind, wird nicht Beweis geführt (Art. 139 Abs. 2 StPO).
StPO 6 enthält den sogenannten Untersuchungsgrundsatz. Der Untersuchungsgrundsatz besagt, dass alles, was für oder gegen die Täterschaft einer beschuldigten Person spricht, abzuklären ist. Das Augenmerk der Strafverfolger liegt in aller Regel auf dem Nachweis der Täterschaft und weniger auf dem Nachweis der Unschuld. Sich möglichst frühzeitig verteidigen zu lassen, wenn es denn wirklich einmal notwendig wird, zahlt sich in jedem Fall aus. Andernfalls steht man alleine dem versierten Strafuntersuchungsapparat gegenüber. Im erwähnten Fall liessen sich auch die beschuldigten Anwälte richtigerweise durch Anwälte vertreten. In eigener Sache prozessiert man eigentlich nie.
In E. 4.4 erklärt das Bundesgericht dann in letzter Konsequenz, dass die Wahrheitsfindung auch beinhaltet, durch die Beschlagnahme von E‑Mails zu prüfen, ob es nicht zu einem Hackerangriff gekommen sei.
Die Staatsanwaltschaft erwartet aufgrund dieser Beweismittel insbesondere sachdienliche Erkenntnisse darüber, wer die E‑Mail vom 4. Mai 2015 (aus dem liechtensteinischen Mailkonto) wann erhalten und weitergeleitet hat, wer diesbezüglich was angeordnet hat, und wer die E‑Mail auf welche Weise verfälscht und (vermutlich zu Beweiszwecken im Zivilprozess) ausgedruckt hat. Dabei wird gegebenenfalls auch entlastenden Beweisergebnissen (z.B. gutgläubiger Empfang einer bereits abgeänderten E‑Mail durch den Beschuldigten, allfälliger “Hacker-Angriff”, Täterschaft von Dritten usw.) Rechnung zu tragen sein (vgl. Art. 6 Abs. 2 StPO).
Die pauschale Verneinung der Untersuchungsrelevanz für alle gesiegelten Beweismittel erscheint demgegenüber sachlich nur schwer nachvollziehbar und bundesrechtswidrig; sie würde im Übrigen eine empfindliche Beeinträchtigung der Wahrheitsfindung bei der Abklärung eines Verbrechens oder Vergehens nach sich ziehen.
Gem. Bundesgerichtsentscheid hätten die Beschwerdeführer im Weiteren nicht nachvollziehbar aufgezeigt, dass zwischen Delikt und sichergestellten E‑Mails kein Konnex bestehe. Die Vorinstanz habe das pauschal angenommen, was Bundesrecht verletze.
Die Beschwerdeführer bringen noch den prozessual sehr interessanten Einwand vor, die Staatsanwaltschaft habe gar nicht dargelegt, welche gesiegelten E‑Mails überhaupt relevant seien. Der Einwand wurde nicht gehört.
Ebenso interessant ist der Einwand, dass eigentlich bereits gefunden worden sei, was die Staatsanwaltschaft gesucht habe. Deshalb sei die Entsiegelung gar nicht mehr notwendig. Die Beschwerdeführer sprechen damit die Verhältnismässigkeitsprüfung nach StPO 197 an. Ohne dass ich die Prozessakten kenne, scheint mir dieses Argument durchaus stichhaltig.
Das von den Beschwerdeführern angeführte Anwalts- und Geschäftsgeheimnis wird vom Bundesgericht am Schluss etwas gar pauschal beiseite gestellt. Diesen Eindruck gewinnt man jedenfalls als externer Betrachter. Im Entsiegelungsverfahren wäre gerade die Interessenabwägung das zentrale Element. Die Wahrheitsfindung hat hier (wie schon des Öfteren) Vorrang erhalten, was in Bezug auf das Legalitätsprinzip Fragen aufwirft.
Die Erkenntnis, die man aus dem Entscheid 1B_401/2017 gewinnen kann, ist die, dass die Entsiegelung im Hinblick auf den Untersuchungsgrundsatz auch dazu dienen soll, Umstände zu erforschen, die den Beschuldigten entlasten. Das ist erfreulich und vom Gesetz an sich auch vorgesehen. Im konkreten Fall habe die Staatsanwaltschaft nun die Möglichkeit zu prüfen, ob es nicht zu einem Hackerangriff auf den Beschuldigten und seine Sekretärin gekommen sei. Dass sich ebendieser Beschuldigte und seine Sekretärin gegen die Entsiegelung gewehrt haben, spielt bei dieser Argumentation natürlich keine Rolle mehr.
Das Untersuchungsprinzip und insbesondere die Wahrheitsfindung derogieren in diesem Fall die vorgesehene Interessenabwägung; sie tritt in den Hintergrund. Gerade in diesem Fall, wo das Anwaltsgeheimnis auf dem Prüfstand steht, wäre eine Auseinandersetzung damit eigentlich angezeigt.
Rechtsanwalt Roman Kost ist Spezialist für Informationssicherheit und Datenschutz. Als Anwalt vertritt er Sie unter anderem im Bereich des Hackerstrafrechts, sämtlichen Belangen der IT und der Informationssicherheit sowie des Datenschutzes.
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